Herzlich Willkommen
und viel Spaß
beim Schmökern
„Sie kann ihn nicht halten. Dazu fehlt ihr die Kraft. Er wird ins Bodenlose fallen. Genau wie der Mann vor ihm. Der, den
er verfolgt hatte. Nein, sie kann ihn nicht retten“, murmelte er.
Raphael sagte nichts. Er sah schweigend zu dem über den Abgrund hängenden Mann und zur Frau, die doch,
zumindest für den Moment, fest annahm, sie könne ihn retten.
„Sie könnte überleben. Dazu muss sie nur seine Hand loslassen. Tut sie das nicht, reißt er sie mit in die Tiefe und in
den sicheren Tod“, seufzte Uriel, der Engel des Lichts Gottes.
Raphael rührte sich nicht.
1.1
Es war beileibe nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, dass sich Kiana unbe-merkt aus dem
Haus geschlichen hatte. Schon vor über einer Stunde war sie in die Wälder außerhalb der geschützten Zone
geflüchtet. Und das, obgleich es strengstens untersagt war. Aber heute brauchte sie einen freien Kopf. Denn heute
Abend fand das von ihr verhasste Familienessen statt. Vor diesen einmal im Monat stattfindenden Abendessen mit
der gesamten Familie graute ihr. Sie hasste die Falschheit, mit der alle Familienmitglieder scheinbar vereint um den
großen, ovalen Tisch in Jerome Murenis Esszimmer saßen. Obwohl doch jedem Anwesenden vollkommen klar war,
dass es unter der nach außen hin intakten Oberfläche, gewaltig brodelte.
Kiana stöhnte.
Irgendetwas lag in der Luft. Das ahnte sie. Etwas Bedrohliches, Angsteinflößendes. Womöglich lag ihr komisches
Gefühl in der Magengegend auch nur da-ran, dass Jerome Mureni seit einiger Zeit die Ange-wohnheit hatte, bei diesen
Zusammenkünften seine Macht zu demonstrieren.
Kiana lachte bitter auf.
Die eigene Familie hatte Angst, vom Clan-Oberhaupt vor versammelter Mannschaft vorgeführt und bloß gestellt zu
werden. Was in letzter Zeit auch in schönster Regelmäßigkeit passierte. Kein Wunder, dass nicht nur Kiana diese Essen
abgrundtief verab-scheute. Und doch machte jeder in der Familie gute Miene zum bösen Spiel. Im Endeffekt waren sie
alle auf Jerome Murenis Wohlwollen angewiesen. Und zudem war Anwesenheit bei diesem Essen Pflicht.
Heute, das war Kiana vollkommen klar, musste sie sich mit ihren Äußerungen zurückhalten. Was ihr leider nicht leicht
fiel. Sie äußerte stets offen und ehrlich ihre Meinung, die nicht unbedingt auch die Ansichten Jeromes waren. Bei
ihrem letzten Disput mit ihm hatte sie den Bogen eindeutig überspannt. Weitere Differenzen mit dem Oberhaupt des
Clans konnte und durfte auch sie sich nicht leisten.